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Warum wir Schulnoten schon gestern hätten abschaffen sollen

Tobias Kammer

Ich möchte ehrlich sein: Als Lehrer kann ich Schulnoten nicht ausstehen. Es ärgert mich, dass wir unsere Heranwachsenden jahrelang einem Prüfungsstress aussetzen, obwohl wir wissen, dass Angst kein guter Lehrmeister ist. Die Lehr- und Lernforschung bestätigt diese Erkenntnis immer wieder. Doch genau das ist eine der Hauptwirkungen von Noten.

Schlimmer noch: Insbesondere jüngere Kinder können Leistungs- von Wesensbewertungen nicht trennen. Eine „schlechte“ Note wird nicht nur als Leistungsfeedback, sondern auch als Urteil der eigenen Minderwertigkeit wahrgenommen und in die sich entwickelnde Persönlichkeit integriert. So verwandelt sich „Deine Leistung ist schlecht“ schnell in „DU bist schlecht“ – eine verheerende Botschaft für sich entwickelnde Persönlichkeiten.

Sind Noten im 21. Jahrhundert ein effektives Instrument zur Steuerung von Lernprozessen?

Kurze Antwort: Nein. Menschen lernen auch ohne Benotungsdruck effektiv. Das beweisen bewährte reformpädagogische Schulkonzepte genauso wie ein Blick auf die große Zahl von Youtube-Autodidakten. 

Historisch gesehen dienten Schulnoten vor allem der Kontrolle und Selektion. Sie sind ein effektives System zur Steuerung des Schülerverhaltens und zur Kontrolle der Anpassungsbereitschaft an die Erwartungen eines Systems. In ihrer Selektionsfunktion verweisen Schulnoten SchülerInnen je nach Leistung auf gesellschaftliche Positionen. Dies war historisch durchaus sinnvoll, als Schule nicht länger nur für Adel und Klerus vorbehalten war und für alle geöffnet wurde. SchülerInnen öffneten sich Türen fortan nicht länger nur abhängig von Stand und Herkunft, sondern auch nach Leistungsfähigkeit

Die Wirkung heute, da ist die Forschung einig, ist jedoch eine andere: Schulnoten reproduzieren soziale Ungerechtigkeit. Sie sind keineswegs so objektiv, wie angenommen, und bestimmte Studiengänge mit hohem NC stehen vor allem bestimmten sozioökonomischen Gruppen offen. Anstatt die Anzahl der Ausbildungs- und Studienplätze an den Bedarf und die Wünsche der Heranwachsenden anzupassen, werden Abschlussnoten dazu verwendet, einen Mangel an ausreichenden Plätzen effektiv zu verwalten. Die Schweiz zeigt, wie es besser geht: Dort sind fast alle Studienplätze zulassungsfrei, und die Note der Matura hat keine Einschränkungen auf die Wahl des Studienganges.

Die Feedback-Funktion von Noten, die Lernende bei der Anpassung ihres Lern- und Arbeitsverhaltens unterstützen soll, wird von der Schulforschung ebenfalls als dysfunktional kritisiert. Schulnoten sind zu eindimensional, um die komplexe individuelle Entwicklung eines Heranwachsenden ausreichend zu beschreiben.

“Noten sind nicht in der behaupteten Weise für das Lernen nützlich und sie sind erst recht nicht nötig. Sie betonen einseitig die Bewertungsfunktion – können aber auch diese wegen ihrer mangelnden Aussagekraft, Vergleichbarkeit und Objektivität nicht angemessen erfüllen”,

so Schulforscher Hans Brügelmann mit Blick auf eine empirische Untersuchung zur Effektivität von Schulnoten.

Ich kenne niemanden, der ernsthaft davon überzeugt ist, eine Zahl könne die komplexe indivuduelle Entwicklung eines Heranwachsenden hinreichend beschreiben. Hierzu fehlt Schulnoten ein differenzierendes Moment zur Beschreibung individueller Entwicklung.

Zugegeben: Schule muss über Sanktionswerkzeuge verfügen, um SchülerInnen in ihrem Interesse zu lenken. Als Mittel der Leistungsbewertung sind Noten hierzu jedoch eine denkbar schlechte Option.

Die gravierenden Folgen einer 13-jährigen Dauerbewertung

Reformpädagogische Bewegungen beweisen seit über 100 Jahren, dass keine extrinsischen Motivatoren nötig sind, um Kinder zum Lernen anzuregen. Im Gegenteil: Ein System, das hauptsächlich auf extrinsische Motivation und Kontrolle durch Noten setzt, unterschätzt die Bedeutung kindlicher Begeisterung und ihrer Fähigkeit zur Selbststeuerung.

Genau diese Fähigkeit zur selbstverantwortlichen Handlung ist jedoch eine Schlüsselkompetenz in der Multioptionsgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Junge Menschen benötigen in der überkomplexen Welt mehr denn je die Fähigkeiten zur Selbststeuerung, Zielsetzung und Selbstmotivation. Kontrolle und Fremdsteuerung durch Noten sind der denkbar ungeeignetste Weg, um Autonomie und Mündigkeit zu vermitteln. Noten kultivieren Gehorsam und Folgsamkeit, was den gesellschaftlichen Anforderungen einer vergangenen Epoche entspricht. Schule muss sich dringend an die veränderten gesellschaftlichen Ansprüche anpassen. Noten sind Relikte eines überholten Systems und werden den heutigen Zielen einer freien, demokratischen Bildung nicht gerecht.

Nicht zuletzt haben Noten gravierende Auswirkungen auf die Lehrer-Schüler-Dynamik. Das pädagogische Verhältnis kann niemals im demokratischen Sinne Gleichberechtigung und echte Partizipation fördern, solange Lehrer bewerten statt beraten.

Fazit: Wir benötigen sinnvolle Alternativen

Wenn wir unsere Lernenden aufrichtig auf ein selbstbestimmtes Leben vorbereiten wollen, müssen wir aufhören, Noten als Mittel der Leistungsbeurteilung und -kontrolle zu nutzen. Zwar mag die kurzfristige Motivation durch Noten(-angst) verlockend erscheinen, doch bergen Noten langfristig Schäden für SchülerInnen und die Gesellschaft. Sie zementieren gesellschaftliche Ungleichheit, beeinträchtigen das kindliche Wertgefühl und hemmen die Entwicklung von Emanzipation und Mündigkeit.

Es gibt bereits funktionierende Alternativen zur Einzelnote, wie beispielsweise Textzeugnisse oder mehrdimensionale Kompetenz-Raster. Können wir als Schule und Gesellschaft den Mut aufbringen, die alten Wege zu verlassen?

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